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Judith Lamberty

Judith Lamberty
 
Dezentrierte Literatur?
Neuorientierungen im Verlagswesen der Francophonie du Nord im 21. Jahrhundert

(Start-up Project)

« [Q]uand on est auteur, Paris est un passage obligé ». Mit diesen Worten äußert sich der französischsprachige, in der Schweiz lebende Autor Max Lobe in einem 2014 stattgefundenen Interview bezüglich der Gemeinsamkeiten frankophoner Schriftsteller*innen und reiht sich damit in einen Diskurs ein, der die ökonomische wie symbolische Dominanz des französischen Buchmarktes anprangert. Aus der Vielzahl und dem internationalen Renommee der in Paris ansässigen Verlage, preisstiftenden Institutionen und Instanzen der Literaturkritik entsteht eine von der französischen Metropole ausgehende Anziehungkraft, die auch als „lutétiotropisme“ bezeichnet wird. Die Entwicklung von Paris zum literarischen Zentrum der Frankophonie oder gar der „Republique mondiale des Lettres“, wie es die Literaturwissenschaftlerin Pascale Casanova behauptet, hat zur Folge, dass die frankophonen Buchmärkte in einem Abhängigkeitsverhältnis zum französischen Buchmarkt (ent)stehen. Diese Abhängigkeit vom dominanten Literaturmarkt Frankreichs mündet generell, so Casanova, in zwei unterschiedliche Strategien – in der Abwendung vom und der Assimiliation an den Buchmarkt des Hexagones seitens der Akteure der Literaturbetriebe der ‚Peripherie‘. Auf der einen Seite veranlasst der „lutétiotropisme“ Schriftsteller*innen aber auch Verleger*innen bis heute, ihren Wohn‐, Schreib‐ bzw. Produktionsort nach Frankreich zu verlagern, das Urheberrecht an einen französischen Verlag abzutreten oder eine Zusammenarbeit mit französischen Akteuren einzugehen, die in Koeditionen münden. Diese Assimilierungsstrategien, die dazu dienen sollen, den Werken des eigenen Katalogs eine breitere Zirkulation zu ermöglichen, ziehen jedoch auch Modifizierungen der Werke selbst mit sich, die in diesem Zuge dem Geschmack der französischen Rezepienten angepasst werden. Akteure, denen diese Anpassung widerstrebt, tendieren auf der anderen Seite dazu, sich bewusst abzugrenzen, widmen sich Nischengenres oder regionalen Themen, die auch beim lokalen Verlag publiziert und innerhalb des eigenen, begrenzten frankophonen Raums Verbreitung finden können. Erfolg – im Sinne eines Erfolgs der sich an Verkaufszahlen aber auch an Anerkennung misst – im frankophonen Raum sowie auch die Möglichkeit der Übersetzung und somit der internationalen Zirkulation erreichen jedoch immer noch vorrangig diejenigen Werke frankophoner Schriftsteller*innen, die direkt von oder in Ko‐editionen mit Pariser Verlagen publiziert und verbreitet werden. „[T]out se passe comme si la littérature de langue française publiée hors de France n'avait aucune légitimité, du moins tant que les éditieurs parisiens n’en ont pas racheté des droits“; zu diesem Schluss kommt der Kommunikationswissenschaftler Luc Pinhas noch im Jahr 2006.

Die französische Gemeinschaft Belgiens, die Suisse romande und Quebec, sind französischsprachige Regionen, die unter dem Begriff Francophonie du Nord subsumiert werden. Mit je in etwa 100 (Suisse romande), 250 (Föderation Wallonie‐Brüssel) bzw. 300 (Quebec) ansässigen Verlagen zeichnen sich diese drei frankophonen, ‚peripheren‘ Buchmärkte durch eine Dynamik aus, die sich aus einer Dichte an Verlagshäusern und einer Produktion, die – in Relation zur Größe des jeweils potenziellen Lesepublikums gesehen – mit derer Frankreichs vergleichbar ist oder diese sogar übersteigt, ergibt. Neuen Schwung erhalten die Buchmärkte aufgrund der seit der Jahrhundertwende neu enstehenden oder neu übernommenen Verlagshäuser, die, so die Hypothese des Projekts, die Idee eines Zentrums der frankophonen Literatur aufzuheben bzw. die Idee der Literaturen der Welt zu verbreiten versuchen. Zum einen wenden sich diese jungen Verleger*innen und die von ihnen publizierten Autorinnen und Autoren zunehmend von regionalistischen Tendenzen ab und setzten dagegen auf Weltoffenheit und Aufrechterhaltung der Bibliodiversität. Zum anderen entscheiden sie sich immer mehr dazu, Autorenrechte nicht an einen französischen Verlag abzutreten, sondern die Werke ihres Katalogs unter ihrem eigenem Namen zu verbreiten (u.a. die Quebecer Verlage La Peuplade und Mémoire d’encrier). Das „décentrement“ des französischen Buchmarktes sowie aber auch das „décloisonnement“ der eigenen Literaturmärkte ist demnach ihr Ziel. Trotz der Abdankung der gängigen Distanzierungs‐bzw. Anpassungsstrategien verschaffen diese jungen Verlage jedoch den von ihnen publizierten Schriftsteller*innen und ihren Werken – je nach Region mehr oder weniger – vermehrt Gehör auf dem französischen und darüber hinaus auf dem internationalen Buchmarkt.

Die seit 2000 entstanden Literaturverlage bzw. neuen Verleger*innen, die den Literaturen aus Belgien, der Schweiz und Quebecs zunehmend Sichtbarkeit verleihen und an der dominanten Stellung des französischen Literaturmarktes innerhalb der Frankophonie zu rütteln beginnen, stehen im Fokus des Forschungsinteresses des PostDoc‐Projekts. Das Projekt nimmt sich zum Ziel, die Struktur und Entwicklung sowie die neue Qualität der Diskurse dieser neuen oder neu übernommenen Verlage und ihr Verhältnis zum französischen und internationalen Buchmarkt zu beleuchten. Es wird zunächst davon ausgegangen, dass neue Verbreitungs‐ und Präsentationsformen der Literaturen seitens der Verlage einen Einfluss auf die Sichtbarkeit und Anerkennung der Werke in Frankreich haben. Folglich werden zum einen (neue) Publikationspraktiken, durch die die frankophonen Verlage auf eine internationale Zirkulation ihrer Werke zielen, identifiziert und untersucht. Ein besonderer Fokus liegt dabei auch auf der Untersuchung der Rolle des Internets bei der Dezentralisierung der Produktions‐ wie auch Distributionsprozesse. Zum anderen sollen Diskurse in verlegerischen Paratexten dahingehend analysiert werden, wie Literaturen aus den drei frankophonen Regionen präsentiert werden. Hierfür werden u.a.Online‐Plattformen der Verlage, ihre Kataloge, Klappentexte in literarischen Werken sowie auch die Präsentation von Verlag, Schriftsteller*innen und ihren Werken auf Buchmessen im lokalen Raum (Foire du Livre de Bruxelles, Salon du livre Genève, Salon du livre de Montréal) wie auch in Frankreich (Salon du livre de Paris) in die Untersuchung miteinbezogen. Über die Analyse von Praktiken und Diskursen der „jungen“ Verlage wird in einem ersten Schritt aufgezeigt werden, inwiefern diese die Dichotomie zwischen dominantem Zentrum und dominierter Peripherie aufzuheben versuchen. Der Frage, welche Rolle „der Weg über Paris“ noch für die internationale Literaturzirkulation (über die Frankophonie hinaus) spielt, soll in einem zweiten Schritt über Übersetzungsstudien zu den in den jungen Verlagen erschienenen Werke nachgespürt werden.
 
 
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